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in operation Singapur 2002/2003


Als Stipendiatin des Wüstenrot-Stipendiums für Dokumentarfotografie, einem nun im vierten Jahr ausgeschreibenen Nachwuchsförderpreis für engagierte, direkte Fotografie, hatte Nicola Meitzner im Jahr 2002 die Gelegenheit, für viereinhalb Monate in der asiatischen Metropole Singapur ein vorher schriftlich fixiertes und juriertes fotografisches Langzeitprojekt zu realisieren. Zwei Jahre später ist diese Ausstellung mit geplotteten Schwarzweiss-Aufnahmen EIN mögliches Ergebnis ihres Schaffens. Eine andere Werkform aus dem Fundus der gleichen Aufnahmen ist die einer endlos geschalteten Diaprojektion, die zur Zeit im Rahmen der Stipendiatenausstellung im Kunstverein Ludwigsburg, später dann im Fotomuseum Braunschweig und zum Abschluss im Folkwangmuseum Essen zu sehen ist.

Die gestalterischen und intellektuellen Möglichkeiten, verschiedene und gleichwertige Werkformen zu entwickeln ist sicherlich ein zeitgenössischer Aspekt von IN OPERATION, der diese Arbeit, oder besser gesagt, diese fotografische Haltung von Nicola Meitzner im Rahmen der von Pietro Mattioli bespielten COALMINE Fotogalerie so interessant macht.

Schon vor der umfassenden Dokumentation des wirtschaftlich und touristisch florierenden Stadtstaates Singapur hat die Künstlerin in früheren Projekten das Gesamthafte ihrer fotografischen Aussage im Blick gehabt. Ihre Künstlerbücher wie SBB CFF FSS (1995), dem Städteportrait über Berlin WIE VIELE STOCKWERKE HAT IHR HAUS IN DEM SIE WOHNEN? (2000) oder einer seit mehreren Jahren verfolgten und noch nicht abgeschlossenen Dokumentation über ZÜRICH WEST (seit 2001) tragen den gleichfalls konzeptuellen wie bildnerischen Anspruch in sich, eine künstlerische Aussage nicht im Einzelbild zu formulieren, sondern verschiedene fotografische Gattungen wie das Portrait oder die architektonische Stadtansicht auch gegen bestehende fotografische Genrebegriffe unmittelbar miteinander in Verbindung zu setzen.

Der Stadtstaat Singapur wurde vom britischen Staatsbeamten Sir Stamford Raffles 1819 gegründet und seit der politischen Unabhängigkeit 1965 systematisch zu einem der effizientesten Finanz-, Handels- und Dienstleistungszentren Südostasiens ausgebaut. Strategisch wichtig an der Strasse von Malakka gelegen verbindet sie die Schifffahrtswege vom Osten zum Westen; viele Fluglinien nutzen den Flughafen von Singapur als Drehscheibe in der Region und spülen so jährlich ca. 7 Millionen Besucher in die Stadt. IN OPERATION, als Titel für die Serie abgeleitet aus einer elektronischen Tankstelleninformation in einer der Fotografien, verweist auf den gelenkten und geordneten Charakter dieser „westlichsten“ aller asiatischen Metropolen. Sauberkeit und Ordnung, eine der geringsten Kriminalitätsraten auf der Welt, und das restriktive Bestrafen auch kleinster Alltagsdelikte entwickelt nicht nur bei Touristen, sondern auch bei den ca. 4 Millionen Einwohnern ein geschultes Verhalten im Alltag.

Der Klimaanlage kommt in Singapur eine volkswirtschaftliche Funktion bei. Bei hohen Luftfeuchtigkeitswerten das ganze Jahr über brauchte es eine technischen Innovation, um der Arbeitsmoral und dem Freizeitverhalten elementar beizukommen. Die Menschen in Singapur wandeln heute von einer klimatisierten Zone zur nächsten, nur unterbrochen von kurzen Wegen, bei denen sie eine Strasse überqueren oder zu ihrem Wohnblock finden müssen.

Der Wille staatlicher Kontrolle produziert artifizielle Räume, so eine These von Meitzner, die regelrecht programmiert erscheinen. Die künstliche Inszenierung ganzer Lebenswelten wie auf Sentosa Island, einer aufgeschütteten Freizeitinsel mit Palmen und Urwald, oder kunstvoll simulierten Naturbädern und Skiarenen sollen ein Verlassen Singapurs scheinbar überflüssig machen. In den steilen Perspektiven Nicola Meitzners von Wolkenkratzern und Wohnblocks herab wird der architektonische und gesellschaftspolitische Masterplan Singapurs sichtbar, der zum Teil von individuellen Handlungen durchkreuzt wird. Kleine Trampelpfade markieren den stillen Widerstand der Bewohner, sich mit der staatlichen Regulierung arrangieren zu müssen.

Für die dort Lebenden dürfte die allgegenwärtige Anwesenheit von Lautsprechern, Informationstafeln, oder das spezielle Mass an Überregulierung nichts Bedrohliches oder Sonderbares darstellen. Für den Fremden mit dem gezielt kritischen Blick sind all dies Zeichen, die sich erst in der Summe ihrer Symptome zu einer Diagnose verdichten.

IN OPERATION ist neben den topografischen Abtastungen auch ein fotografisches Porträtwerk. Nicola Meitzner nimmt hier eine Position ein, bei der sie dem privat aufgenommenen Porträt einen fast intimen Duktus beimisst. Trotz extremer Nahsicht belässt sie ihrem Gegenüber hier den individuellen Freiraum, sich vor der Kamera und für die Kamera zu inszenieren, und fordert keinen unmittelbaren Blickkontakt zu ihr heraus. Differenzierter, weil nur vordergründig oberflächlich, geht die Künstlerin bei den Ganzkörperporträts vor, wenn die fotografierten Kleingruppen und Personen sich fröhlich, fast aufgesetzt in Pose werfen. Dies ist die öffentlich zu Schau getragenen Seite der Singapuris. Freundlich und aufgeschlossen wirken sie alle und es scheint ausgeschlossen, dass unter ihnen auch ein Informant sein könnte, der dem restriktiven Vorgehen des Staates zuarbeiten könnte. In diesen Brüchen des Offiziellen zum Privaten, im schmalen Grad des sichtbar Werdens von unsichtbaren Konventionen, weist IN OPERATION somit über die Beschreibung einer spezifischen Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts hinaus. Das Zusammenleben in Metropolen heute könnte abseits von ideologischen Wertmaßstäben der gemeinsame Nenner dieser Serie sein.

Nicola Meitzner, die im kommenden April übrigens eine neue Arbeit über Tokyo beginnt, wurde 1969 in Amberg geboren lebte von 1973-79 in Bombay. Dies könnte ein Indiz dafür sein, warum sie asiatische Städte so anziehen. Von 1993 bis 99 studierte sie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig im Fachbereich Fotografie, wo sie drei Jahre als Assistentin von Joachim Brohm tätig war.

Verfolgt man die Geschichte dieser Hochschule nach der Wende 1989 und ihrer Neuausrichtung ab 1993, so kann man in den einzelnen Fotografieklassen sehr deutlich einen Stil erkennen, so wie ihn die Becherklasse in Düsseldorf es vielleicht Mitte der 80er Jahre vermocht hat. Gerade in den Positionen der Klasse Brohm, dessen Arbeiten wie sie wissen vor einem Jahr im Fotomuseum Winterthur zu sehen waren, wird man einen demokratischen Zugang zum Bild festmachen können. Demokratisch heißt dabei, die einzelnen Fotografien in eine geschlossene Serie einzubetten, die, von einer künstlerischen Haltung geprägt, zu gleichwertigen Bildleistungen führt. Das Eine kommt ohne das Andere nicht aus, und dennoch drängt sich keines der Einzelmotive ultimativ in den Vordergrund, um einen eigenen auratischen Wirkungskreis zu beanspruchen. Keines der Bilder soll sich diesem Diktat entziehen können, nicht in der für uns heute unsichtbaren Diainstallation, und auch nicht diesem komplexen Bildfries, den die Wandform von IN OPERATION in diesem Ausstellungsraum nun eingenommen hat.

Die Arbeit über Singapur ist eine gelungene Auseinandersetzung der Künstlerin, eine inhaltlich motivierte Fotografie mit dem engagierten Ringen um eine Form in diesem Medium zu vereinen. Dies ist - nicht mehr und nicht weniger - der Diskurs, dem sich die Fotografie heute stellen sollte.


Einführungsrede von Thomas Seelig, Sammlungskurator des Fotomuseums Winterthur, anlässlich der Vernissage am 16. Februar 2004.